INTERNET und DEMOKRATIE

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Grünes Internet-Beteiligungsdesaster

Posted by Stephan Eisel - 27. Oktober 2016

Mit einer vernichtend geringen Beteiligung setzt die Online-Wahl der grünen Spitzenkandidaten zur Europawahl 2014 die Reihe der gescheiterten Internet-Abstimmungen nahtlos fort.

Den folgenden Beitrag können Sie hier ausdrucken.

Stephan Eisel

Grünes Internet-Beteiligungsdesaster

Online-Abstimmung scheitert erneut

Mit einer großen Werbekampagne in 24 Sprachen führten die GRÜNEN in allen 28 EU-Mitgliedsstaaten über zehn Wochen vom 10. November 2013 bis zum 28. Januar 2014 eine Internetabstimmung zur Wahl ihrer beiden Spitzenkandidaten für die Europawahl 2014 durch. Abstimmungsberechtigt waren bei dieser „Green Primary“ alle EU-Bürger über 16 Jahre, insgesamt also 380 Mio Menschen. Abgegeben wurden in einem Verfahren, das Mehrfachab-stimmungen nicht ausschloss, allerdings nur 22.676 Stimmen – also nur 0,006 Prozent der möglichen Stimmen. Auch im Vergleich zu den ca. 140.000 Mitgliedern grüner Parteien in der EU (davon ca. 60.000 in Deutschland) ist die Beteiligung mit ca. 16 Prozent niederschmetternd.

Es standen vier Kandidaten zur Wahl, drei Europaabgeordnete und die Ko-Vorsitzende der Europäischen Grünen Partei: Dabei entfielen auf die deutsche Abgeordnete Franziska Keller 11.791 Stimmen, auf den französischen Parlamentarier José Bové 11.726 Stimmen, auf die deutsche Europaparlamentarierin Rebecca Harms 8.170 Stimmen und auf die italienische Parteivorsitzende Monica Frassoni 5.851. Weitere Informationen zur Abstimmung – etwa die Beteiligung in den unterschiedlichen EU-Staaten – veröffentlichten die Grünen nicht.

Das gewählte Abstimmungsverfahren war manipulationanfällig und verhinderte Mehrfachab-stimmungen nicht: Die Teilnehmer mussten zwar Vorname, Name, Handynummer, Herkunfts-land und e-mail-Adresse angeben – das Alter wurde allerdings nicht abgefragt und konnte auch nicht überprüft werden. Wer mehrere e-mail-Adressen bzw. Handynummern besitzt, konnte auch mehrfach abstimmen. Der WDR demonstrierte das mit einer Schülerin, die gleich vier Stimmen abgab (taz 12.01.2014).

Das Beteiligungsdesaster der GRÜNEN bei dieser Internet-Abstimmung reiht sich nahtlos ein in die ernüchternden Erfahrungen mit Online-Abstimmungen:

Dass selbst die engere Netzcommunity eine auffällige Distanz zur Entscheidungsfindung im Internet demonstriert, zeigt z.B. die außerordentlich niedrige Beteiligung an den beiden „welt-weiten Abstimmungen“ die Facebook über eine Änderung seiner Nutzungsbedingungen durch-führte. Zur ersten Abstimmung hatte Facebook-Gründer Mark Zuckerberg alle Facebook-Mitglieder 2009 aufgerufen hatte. Es ging um die Neufassung der Allgemeinen Geschäfts-bedingungen, die zuvor im Internet heftige Debatten ausgelöst und zu massiver Kritik vieler Nutzer an Zuckerberg geführt hatte. Trotz erheblicher Werbemaßnahmen nahmen aber nur 0,3 Prozent (665.654 von damals 200 Millionen) der Facebook-Mitglieder an der Abstimmung teil. Bei der 2012 durchgeführten zweiten Abstimmung über neue Facebook-Richtlinien beteiligten sich sogar nur 342.632 von inzwischen über 900 Millionen Nutzern (nur noch 0,04 Prozent).

Wenig abstimmungsbegierig im Internet sind selbst die Mitglieder der als Internetpartei gegründeten Piratenpartei: Bei der parteiinternen Abstimmungsplattform „Liquid Feedback“  haben sich von 29.381 Parteimitgliedern überhaupt nur 10.125 überhaupt registriert. Als „Aktive“ bezeichnet das System 1.326 Mitglieder (Stand  jeweils 30. 01. 2014).  An den Einzelabstimmungen beteiligen sich meistens nur einige dutzend, manchmal einige hundert und höchstens tausend Mitglieder, also nur harter Kern von weniger als fünf Prozent der Gesamtmitgliedschaft.

Ein Beteiligungsfehlschlag sind auch die seit 2007 etwa 100 von über 14.000 deutschen Städten und Gemeinden durchgeführten „Online-Bürgerhaushalte“ durchgeführt. Dabei werden den Bürgern von der Verwaltung bzw. dem Rat ausgesuchte und von ihnen selbst eingebrachte Vorschläge für den städti­schen Haushalt im Internet zur Bewertung und Abstimmung vorgelegt. Da zur Teilnahme die Registrierung mit einer e-mail Adresse genügt sind weder die Teilnahme nicht wahlberechtigter Jugendlicher und Kinder, noch Mehrfachabstimmungen oder die Teilnahme Ortsfremder ausgeschlossen.

Aber selbst wenn man diese Probleme ignoriert und hinter jeder registrierten e-mail-Adresse einen ortsansässigen wahlberechtigten Bürger vermutet, ist die  Beteiligung bei diesen steuerfinanzierten Abstimmungen äußerst gering. Nie wurden mehr als fünf Prozent der Bürger erreicht, zwei Prozent gelten schon als Erfolg und zuletzt hatten 2011/12 in Bonn 0,7 Prozent, in Frankfurt a.M. 0,7 Prozent, in Köln 0,9 Prozent und in Aachen 0,9 Prozent der jeweils wahlberechtigten Bürger teilgenommen. Auch am in den Medien vielfach als vorbildlich gefeierten Beteiligungsprojekt „LiquidFriesland“ nehmen in einem Landkreis mit 100.000 Einwohnern auch nach 18-monatiger Laufzeit weniger als 50 Bürger an Abstimmungen teil.

Selbst der Deutsche Bundestag ist mit dieser Form der Bürgerbeteiligung gescheitert: Die Enquetekommission „Internet und digitale Gesellschaft“, der 17 Abgeordnete und 17 Experten angehören, hat im Februar 2011 beschlossen,  mit Hilfe der Internet-Pplattform „Adhocracy“  als „18. Sachverständiger“ die Möglichkeit zu eröffnen, sowohl „Texte aus der Kommission oder den Projektgruppen zu kommentieren und Alternativen vorzuschlagen, als auch eigen-ständige Textbeiträge passend zur jeweiligen Agenda der Projektgruppen einzu-bringen sowie darüber abzustimmen.“ Innerhalb von zwei Jahren hatten sich bundesweit (1) von über 60 Mio wahlberechtigten Bürgern nur 12.578 Teilnehmer registriert, obwohl auch hier zur Anmeldung lediglich eine e-mail-Adresse genügte und Mehrfachanmeldungen problemlos möglich waren.

Als größter Versuch zur Durchführung von Internetwahlen kann die Entscheidung der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Jahr 2007 gelten, die alle vier Jahre fällige Wahl der „Fachkollegien“ ausschließlich (!) im Internet vorzunehmen. Angesprochen sind jeweils rund 100.000 wahlberechtigte Wissenschaftler, für die der Umgang mit dem Internet zur täglichen beruflichen Routine gehört. 2007 wurden bei den Online-Abstimmungen 36.313 Stimmen abgegeben, 2011 waren es 42.896. Die Beteiligung an diesen Internetwahlen unterschied sich damit nur unwesentlich von der letzten konventionellen Wahl im Jahr 2003, bei der etwa 39.000 Stimmen abgegeben worden waren.

4 Antworten to “Grünes Internet-Beteiligungsdesaster”

  1. Die Zielgruppe bei dieser Online-Wahl waren ausdrücklich nicht alle 380 Millionen Europäer über 16 Jahre, sondern nur Parteimitglieder und Sympathisanten der jeweiligen grünen Parteien in den einzelnen Ländern, also etwa 200.000 Mitglieder plus x.

    Dass diese Regel nicht streng zu kontrollieren war, hing wohl auch damit zusammen, dass Mitgliederlisten nicht überall in gleicher Qualität vorliegen. Nach meinem Verständnis hat man sich bei den Grünen trotzdem bewusst dafür entschieden, dieses Experiment zu wagen, mit allen Vor- und Nachteilen.

    Ob die tatsächliche Wahlbeteiligung am Ende enttäuschend ausgefallen ist oder nicht, mag dahingestellt sein. Das ist immer auch von Zielen und Erwartungen abhängig. Um zu einer aussagekräftigen Bewertung zu kommen, wäre ein Vergleich mit dem Beteiligungsniveau von 2009 hilfreich oder mit vergleichbaren Beteiligungsverfahren bei anderen europäischen Parteien. Vermutlich würde dabei relativ schnell klar, das hier nicht ernsthaft von einem „Desaster“ gesprochen werden kann, sondern dass es sich um zwar ausbaufähige aber im Großen und Ganzen doch relativ normale Ergebnisse handelt.

    • Noch nicht einmal im Verhältnis zu den Parteimitgliedern der Grünen in der EU ist diese (durch die Möglichkeit der Mehrfachabstimmung manipulationsoffene) Abstimmungsbeteiligung weniger als ein Desaster und liegt freundlich gerechnet bei gerade einmal 16 Prozent. Würde man die Zahl der grünen Sympathisanten z. B. auf Grundlage der letzten Wahlergebnisse zugrunde legen, wäre der prozentsatz wiederum kaum zu messen. Da sich die erfahrungen mit Online-Abstimmungen alle in diesem Rahmen bewegen, muss man wohl die sehr begrenzte Reichweite dieserMmethode akzeptieren

      • Das mag ja rechnerisch alles richtig sein, aber darum geht es eben nicht allein.

        Welche anderen Parteien lassen Ihre Mitglieder bei der Aufstellung der Europakandidaten direkt mitbestimmen?
        Welche Parteien laden darüber hinaus Nicht-Mitglieder zu diesem Prozess ein?
        Welche anderen strategischen Ziele mögen die Grünen im Auge gehabt haben, die vielleicht eine geringere Wahlbeteiligung mehr als aufwiegen?

        Ohne ein Mindestmaß an Kontext kann hier leider keine faire Bewertung zustande kommen.

      • Es geht hier um die demokratische Legitimation von Entscheidungen: mit einem derartigen, manipulationsanfälligen verfahren, an dem sich zudem nur einige sehr wenige beteiligen, werden die demokratischen Rechte von Mitgliedern unterlaufen. Am Rande: Es ging hier nicht um die Aufstellung von Kandidaten für das Europaparlament, sondern um die Bestimmung der „Spitzenkandidaten“. Für die Aufstellung der Kandidaten für Parlamentsmandate gibt es nämlich klare gesetzlihe Vorgaben, die glücklichweise nicht jeder mit windigen Verfahren unterlaufen kann.

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